Ich muss heute mit ein paar Leuten über Web2.0 reden, die mutmasslich eine andere Meinung haben werden. Das Problem ist, dass manche von denen Restbestände der New Economy sind und geradezu betonen müssen, dass es heute ganz anders ist. Oder sie verschweigen, an was für enormen Pleiten sie mitgestrickt haben. Aber Web2.0 klingt nun mal eben besser als “ehemaliger Information Manager der Nemax-Pleite Brokat” oder “Beteiligter am RWE Powerline Debakel”, mal ganz zu schweigen von den heute wieder vollkommen üblichen Ãœbertreibungen und Lügen.

Netterweise hat es mit Betty TV gerade einen interaktiven Anbieter tödlich erwischt, der im Vorfeld der Diskussion eine Success Story abliefern wollte, die nun ins Wasser fällt. Meines Erachtens ist das System Web2.0 jetzt schon ausgebrannt und kaputt, ruiniert von zu grossen Erwartungen und totgeschwiegen von der immer speichelleckenden Medienkamarilla.

Keiner redet heute mehr von Yahoo 360°, um mal ein wirklich gross angedachtes Projekt anzusprechen. Der Versuch, alle Web2.0-Dienste unter Führung des enorm erfolgreichen Photodienstes Flickr zu vereinen, wurde zwar mit viel Trara angekündigt, aber weder von der Firma nich von den Nutzern so umgesetzt, dass es vorzeigbare Ergebnisse gegeben hätte. Zum Glück für Yahoo ist MSN Spaces von Microsoft trotz anderslautender Behauptungen wohl auch kaum besser dran. Noch so ein Kandidat ist die Firma Sixapart, die nach einigen Debakeln mit ihrer Blogsoftwarelizensierung gegenüber WordPress ins Hintertreffen gelangt ist, und deren “Kinderleichtes Bloggen für Alle”-Versuch namens VOX ebenso im Abseits darbt, wie das übernommene Netzwerk Livejournal, oder der Mobilblogservice Splashblog. Um bei Bloghostern zu bleiben: Vom mal behaupteten Börsengang des deutschen Anbieters Myblog/20six hört man auch nichts mehr. Und wollte nicht mal Nokia ganz gross in den Bereich mobile Blogging einsteigen? Und was machen eigentlich nochmal die noch vor wenigen Monaten heiss gehandelten deutschen Twitter-Kopien wie Frazr? Immer noch unterwegs in den Fakeprofilen bei StudiVZ, wo letzten Monat diejenigen gehen musste, die mal stolz drauf waren, dort 16 Stunden zu arbeiten und auf dem Fussboden zu pennen? Erinnert sich vielleicht noch jemand an Second Life, das vor ein paar Monaten alle vom Spiegel bis Sascha Lobo als Zukunft des Online Business grossgeschrieben haben?

Momentan wissen Hype-PR-Seiten wie “deutsche-Startups” oder “Gründerszene” kaum noch wohin mit all den durchgereichten guten Nachrichten von jungen Gründern, das spart ihnen das Nachdenken und Ãœberprüfen, was eigentlich aus all den vollmundigen Versprechungen geworden ist. Es ist geradezu ein Kennzeichen des Hypes, dass man mit positiven Nachrichten zugedeckt wird, da muss man nicht lange überlegen, was früher angedacht, investiert und dann begraben wurde. Und selbst, wenn diese Dienste signigfikante Userzahlen vorweisen können, bleibt immer noch die Frage nach der Refinanzierung unbeantwortet. Doch für den Anteil vom Onlinewerbekuchen, der nicht an Googles Adsense und andere grosse Vermarkter geht, gibt es zu viele Neugründungen, die keine andere Idee zur Finanzierung als Anzeigen haben.

All diese Mechanismen, Teufelskreisläufe und Ãœberbewertungen einer Zukunft mit angeblich “sozialen” Medien kennt man zur Genüge aus der New Economy. Es sind gute Zeiten für Leute mit Ankündigungen, weil auf der anderen Seite jede Form einer kritischen Begleitung fehlt. Man liest nie etwas über Umsätze und Gewinne dieser Firmen, es ist eine fluffige, soziale Hätschelwelt, in der sich alle lieb haben und sich nette Geschichten erzählen, und gelobt werden von Beratern, Politikern und Medienmachern, die zwar keine Ahnung, aber erhebliche Interessen haben.

Geschichte widerholt sich, aber sie reimt sich nicht. Ich weiss nicht, wann und wie dieses System kollabiert, ob es zusammenbricht oder langsam abstirbt, ob es einen Knall gibt, oder man es leise beerdigt und möglichst unbeschadet zum nächsten Ding weiterzieht. Es hat viel mit der weiteren Entwicklung des Online-Werbemarktes zu tun, und der Frage, wie effektiv diese Werbung ist, sowie mit den Versuchen von Konzernen wie Google, Microsoft, Yahoo, und im kleineren Massstab Holtzbrinck und Burda, sich gegenseitig die scheinbaren Zukunftsmärkte streitig zu machen. Aber auch dort gibt es nur begrenzte Mittel für Zukäufe, und wo der Rest dann bleibt, wird sich zeigen.

Ich hol schon mal die Schaufel für eine grosse Grube.