Disclosure: Ich habe letztes Jahr bei einem Besuch eines Seminars der Uni Leipzig bei Herrn Dr. Martin Welker extrem schlechte Erfahrungen gemacht, sowohl was die Unwahrheiten und unzutreffende Darstellungen der Veranstaltung durch manche Studenten in der Öffentlichkeit, als auch die, vorsichtig gesagt, nachlässige Reaktion des Leiters auf die Folgen anging. Ich habe seit 2000 mit Journalistikstudenten zu tun, seit 2004 vor allem beim Thema Blogs – und ich hoffe wirklich, dass ich einfach den Ausrutscher erwischt habe, und nicht die Regel in Leipzig

Ich würde mir manchmal wünschen, die Vertreter der Medien und der Publizistik würden ein wenig unvoreingenommener an die Thematik “Blogs und Öffentlichkeit” herangehen. Gerade bei den Wissenschaftlern wäre ich froh, wenn sie erst mal alles althergebrachte Wissen beiseite schieben würden und neu lernen wollten. In der Archäologie ist es eigentlich immer so: Man hat ein Gräberfeld, man sieht im Boden die Umrisse, aber keiner weiss, was sich darin befindet. Also gräbt man erst mal aus, dokumentiert, sammelt, nimmt die Befunde so exakt wie möglich auf, und zieht dann Schlussfolgerungen – immer im Wissen, das das nächste Gräberfeld alles wieder umwerfen kann, indem es ganz andere Befunde liefert. Als sich in meinem Fach die Forscher Kossina und Virchow über Grabungsbefunde gestritten haben, standen beide vor völlig neuen Befunden, und am Ende hatte keiner recht – und trotzdem bauten auf ihren, durch den persönlichen Konflikt geprägten Lehren zwei Schulen auf, die sich noch über Jahrzehnte auf Basis falsch interpretierter Befunde stritten.

So ähnlich ist es auch mit der Beurteilung von dem, was man als “Blogosphäre” bezeichnet. Ich kenne beides, Journalismus und Blogs, und wenn ich auch in vielem anderer Ansicht bin, so werden mir doch die meisten, die in beiden Berufen einigermassen gut ankommen, recht geben, dass es Ähnlichkeiten gibt, aber auch sehr viel Trennendes. Das Trennende ist sstark ausgeprägt, dass der simple Vergelich zwischen den Disziplinen nicht weiterhilft.

Insofern bin ich dann immer froh, Beiträge wie den Text “Im Reich der Freiheit” von Prof. Dr. Michael Haller von der Uni Leipzig über die kontroverse Podiumsdiskussion des DJV von letzter Woche zu finden – es gab da ja durchaus auch weniger kluge Reaktionen. Haller bezieht sich dabei vor allem auf anwesende Journalisten und Blogger und ihr Selbstbild, und leitet in einer gar nicht unklugen Äquidistanz einige spannende Thesen ab, wie etwa über Blogger:

Die real existierende Szene der Blogger hat ein anderes Gepräge. Eitles Gerede („sorry, aber ich …“), redundantes Geschwätz („da hat XX natürlich Recht …“), argumentlose Vorurteile („Wir Blogger denken da …“), auch Belehrfreude („bitteschön, kann man sogar googeln ….“), Von-oben-herab-Geschreibe („war wieder Schwachsinn, diese Diskussion“) – nur gelegentlich stößt man auf eine informative oder plausibel begründete Einschätzung wie auf die berühmte Stecknadel im Heuhaufen.

Etwas überspitzt, keine Frage, aber das ist auch nicht der Anspruch, mit dem viele Blogger schreiben. Und natürlich sind die Diskussionen nicht immer vergleichbar mit einem wissenschaftlichen Diskurs; spannend sind sie dennoch, wenn auch nicht habermastauglich. Muss es das sein? Umgekehrt sieht Haller auch sehr klar analysierte Defizite im Journalismus:

Die Verantwortlichen in den Mainstreammedien haben das Lebensgefühl und die Weltsicht der Unter-30-Jährigen wirklich nicht begriffen; dass sie mit aufgeblasenen Belanglosigkeiten (Knut, Britney, Dschungelcamp) ihre Titelblätter und Nachrichtensendungen füllen – und zeitgleich mit geschwellter Brust über ihre „öffentliche Aufgabe“ schwadronieren: Das kotzt die an Sinnfragen interessierten jungen Leute definitiv an. Man kann die Erwartungsenttäuschung sehr vieler junger Leute sehr gut nachvollziehen, wenn sie davon erzählen, was sie vom „großen“ Journalismus (nicht nur Sat.1 und die Springer-Presse, auch Stern und Spiegel, ARD und ZDF) erwartet und was sie von ihm tatsächlich bekommen haben: die Einsicht, dass der Unsinn die Welt regiert.

Journalisten würden antworten, dass sie nur das liefern, was die Leute wissen wollen. Aber prinzipiell kann man das akzeptieren. Oder besser, man könnte es akzeptieren. Würde sich Haller seinen beitrag am Ende nicht völlig mit einer falschen Aussage zerschiessen. In Bezug auf eine Rapperin und ihren Auftritt gemeinsam mit dem ehemaligen Vanity Fair-Chefredakteur Ulf Poschardt sagt er (Hervorhebung von mir):

Denn schon am Tag nach der TV-Sendung haben tausende Blogger schwadroniert, ob die Frau echt oder falsch, klug oder dumm sei, ob sie nur provoziere oder den Machismo-Kult der Hardcore-Rapper persifliere, ob man ihr Gequassel „geil“ oder „öde“ finden und ihre Bums-Rapp-Hymnen hören oder nicht hören solle. Insgesamt ein gigantisches Pennäler-Palaver, das unter Pennälern völlig in Ordnung ist, weil man dort (noch) nicht weiß, wie man sein Leben erleben wird. Vielleicht erweitert sich die Blogosphäre zu einer postpubertären Selbstfindungsveranstaltung der Mediengesellschaft. Ich habe nichts dagegen, im Gegenteil, ich möchte davon träumen, dass sie nicht in ihrer Redundanz ersticken, sondern die Frischluft des Diskurses gewinnen wird. Aber redet bitte nicht von Journalismus, so verdreht der real existierende auch sein mag. Journalismus liefert das aktuelle Ereigniswissen, auf das sich die meisten Blogger stürzen wie die Geier auf den Kadaver, und besonders gierig dann, wenn ein Mainstream-Fernsehsender eine „Porno-Rapperin“ präsentiert.

Könnte man sagen, wenn es stimmen würde Der haken an der Sache: Die Behauptung, tausende Blogger würden es thematisieren, ist nachweislich falsch. Zu dem Vorfall gibt es weniger als ein Dutzend Blogpostings, eines davon bezeichnenderweise bei einem “Branchendienst” eines Urheberrechtsverletzers namens Peter Turi, und zwei weitere bei Bloggern, die solche Themen gewohnheitsmässig, möglichweise wegen des Googletraffics abfeiern. Sprich: Das Thema ist unter den über 100.000 aktiven deutschen Blogs praktisch nicht existent, eine winzige, teilweise awarenessgeile Minderheit hat sich darauf gestürzt, von “Tausende Blogger” kann überhaupt keine Rede sein.

Es ist nicht zu bestreiten, dass es in der Blogosphäre höchst unschöne Erscheinungen gibt: Gekaufte PR durch Trigami, Googlespamming durch Linkparaden, und oftmals auch dümmliches Nachplappern anderer Blogger und Medien. Aber nicht in diesem Fall, nicht im Mindesten in diesem Ausmass. Was nicht verwundert, denn den meisten geht es um das Erzählen ihrer eigenen Geschichte. Ohne “Relevanz”, “Nachrichtenwert” oder Schielen auf Sensationen. Das Elend der Blogosphäre ist so vielschichtig wie ihr Glanz, und genauso vielschichtig müsste auch die Analyse durch die Wissenschaft sein.

Insofern: Der Beitrag ist zwar in einem Kernpunkt grundfalsch, aber gar nicht so dumm. Auf einem guten Weg, vielleicht. Was fehlt, ist die Recherche und die Fähigkeit, sich mal voll auf das neue mit all seinen Facetten einzulassen. Und das ist mehr als nur die Frage nach der Öffentlichkeitswirkung. Sehr, sehr viel mehr.