Nützliche Twidioten, die einen Hoax verbreiten
Es gibt bei der FAZ nicht zu selten eine gewisse, auch offen zur Schau getragene Geringschätzung von Publikationsformen im Netz. Und die Vertreter dieser Haltung dürfen sich heute bestens bestätigt fühlen, denn einer der Ihren namens Volker Weidermann hat einen Beitrag mit, sagen wir mal, mangelgutem Stil über die Süddeutsche Zeitung geschrieben. Zumindest würde man das unter Journalisten so sehen: Weidermann legt einen Text vor, den man durchaus so auffassen kann, als wäre das jüngste Grass-Gedicht zu Griechenland eine Aktion der Titanic gewesen, um die SZ hinter das Licht zu führen. Gut, man kann eventuell sagen, dass angesichts der Animositäten zwischen Grass und FAZ die Idee, die Süddeutsche würde auf einen fingierten Grass hereinfallen, zu verrückt ist, um sie zu glauben – dann bleibt das kindliche Bemühen von Weidermann übrig, der Süddeutschen Zeitung und Grass wegen ihres Scoops ohne weitere Argmumente zur Sache ans Bein zu pinkeln, so nach em Motto: Wenn es von der Titanic wäre, wäre es auch nicht schlechter und reisserischer. Möglichweise empfinden Leute wie Weidermann so etwas nicht als “perfide”, sondern als “Satire”. Dann darf man sowas, sagt man.
Aber daraus ist jetzt ein veritabler Hoax geworden: Über 500 Tweets verbreiten den Beitrag, und fast alle behaupten, die FAZ hätte sie Süddeutsche dabei vorgeführt, wie sie von der Titanic geleimt wurde. Das ist nämlich für die Benutzer eines Twitteraccounts zu schön, um wahr zu sein, da haben die blöden Holzmedien mal wieder einen Skandal, das muss natürlich sofort vertrötet werden, die anderen machen das ja auch. Lesen und überlegen? I wo. Steht doch auch bei Fefe.Besonders irre ist das hier:
Hey, Medien, aufwachen: Das #grass Gedicht kommt von der Titanic. Recherchiert mal statt zu Kopieren: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/noch-n-gedicht-wo-waere-guenter-grass-ohne-griechenland-11764737.html
Das ist natürlich fein für alle, die das Netz schon immer gehasst haben: Da hat man ihn, den Mob, der sofort aufspringt, sobald eine Geschichte seinen Wünschen nach Sensation und Demütiguing entspricht. Leichtgläubig, nicht nachdenkend, obszön. Alles, was man gerne sehen möchte. Heute erwischt es die SZ, morgen macht es vielleicht schon Springer. Der Fernsehsender FOX und seine Verschwörungstheoretiker funktionieren nach dem gleichen Schema.
Und das Ergebnis im Netz? Die SZ gilt vielen als trottelige Zeitung. Ziel von Weidermann erreicht. Grass kann man auch als Persiflage lesen. Ziel von Weidermann erreicht. Ein ganzer Haufen hat vorgeführt, was Schwarmintelligenz im Praxisversuch ist. Und mit welchen Reizen man ihn steuern kann. Herr Weidermann hat seinen Scoop unter Hirnlosen, und wenn es das nächste Mal darum geht, ob Leser Ansprechpartner auf Augenhöhe sind, oder Minderbemittelte, denen man auch den letzten Dreck vorwerfen kann, solange er ihre Vorurteile bestätigt, werde ich es mitunter vielleicht nicht ganz leicht haben, für die Rezipienten zu argumentieren.
Ich glaube, das ist ein Strukturfehler bei Twitter: 140 Zeichen Unsinn sind schnell abgeschäumt, beim Bloggen muss man auch formulieren und nachdenken, und damit ist die Gefahr, auf so etwas hereinzufallen, doch etwas geringer.
Offenlegung: Ich schreibe für die FAZ, aber mit sowas habe ich nichts zu tun.
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Leider gilt das mit der hirnlosen Schwarmintelligenz nicht nur für Twitter. Besonders bei “rechten” Blogs in den USA werden Falschmeldungen hundert- bis tausendfach kopiert und werden – so funktioniert Google – dadurch zur “Wahrheit”.
Das “Debunking” findet niemand mehr.
Der FAS-Artikel ist leider beschämend. Eines Feuilletonchefs wirklich unwürdig.
PS: Fefe hat inzwischen einen Zusatz
Kann man das, was Grass und die SZ da tun, denn wirklich Scoop nennen? Ich denke nicht.
Nun, sie setzen fest,was debattiert wird, und das zu tun, ist nun mal der Wunsch vieler medien. Insofern ist es durchaus ein Scoop. Man kann darauf so oder so antworten; was weidermann da getan hat, ist aber nicht wirklich fein.
Der Unterschied zu den rechten US-Blogs ist, dass hier “ganbz normale Leute” mitgemacht haben, sprich, es ist nicht aus der Ausrichtung heraus erkennbar, was da abläuft. Obwohl auch ein paar Neofaschisten bei den Claqueren sind.
Es ist wahr: dieser Herr Weidermann ist in Bewegung. Die Treppe hoch. Der Artikel ist infam. Eigenartigerweise sieht man soetwas in der FAS immer wieder mal. Woran liegt das?
Ganz ehrlich: Ich kenne mich in solchen Belangen schlichtweg nicht aus.
Wäre das, was Grass schreibt, so entsetzlich irrelevant, wäre die Reaktion anders ausgefallen.
Woher der Wind weht, verkündet Madame Lagarde ja recht deutlich.
Hat überhaupt irgendein seriöser Autor in einem richtigen Text den hoax aufgegriffen?
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Das einfache Rumtwittern muss man nicht so kritisch sehen. Früher haben sich Gerüchte mündlich und per Telefon weiterverbreitet.
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Von der Menschheit zu erwarten, dass sie auf bewußt verbreitete Gerüchte nicht hereinfällt, das ist zuviel verlangt. Nicht jeder, der ein Twittergerät, ein Telefon oder ein Mundwerk besitzt, kann alle Nachrichten vor Weiterverbreitung so kritisch prüfen wie ein seriöses Medium.
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Und der FAZ-Text war absichtlich irreführend geschrieben.
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Mein Gott, welchen Haß müssen die auf diesen alten Mann empfinden.
Weidermann unterstützt in devoter Manier die rechtspopulistische Erzählung vom faulen Südländer, auch einen Sarrazin, mit deren Hilfe man die Deutschen davon überzeugen möchte, dass sie sich bitte im Interesse ,,ihres” 1% selbst schaden sollten. Silvio Duwe hat das schön herausgestellt:
http://www.heise.de/tp/artikel/36/36986/1.html
An diese Kampagne hängt sich der Schleimer Weidermann halt dran. Bei der FAS überrascht mich so etwas nicht, weil mir die unsägliche Lügilanti-Nummer in Erinnerung ist. Zusammen mit dem Schlömer-Fiasko (Kissinger) ein unschönes Wochenende. Auf Schwarmintelligenz möchte man in diesem Land nicht setzen, auf Qualität der politischen Meinungsbildung schon. Für die ist das Internet halt nur ein Teil, und Twitter/Facebook und so ein besonders unwichtiger.
Abgesehen davon, dass VW ein Trottel ist, eine Tatsachenbehauptung nach der anderen aneinander zu reihen, müssen ihn allerdings auch die lektorierenden/prüflesenden Kollegen des eigenen Hauses ins Messer haben laufen lassen. Durch die Ticker verwertende Nachrichtenredaktion wäre dies hoffentlich nicht durchgegangen – hoffentlich.
Wer Ohren hat, zu hören, der wusste, dass in der SZ unverwechselbar der Günter Grass spricht. Insofern war schon der Ansatz Weidermanns, den Text aus satirischen Gründen (“wat hamwer jelacht!”) bei der Titanic zu verorten, intellektuell gesehen ein echter Rohrkrepierer. Mich erinnert’s auch eher an den Humor von Offizierskasinos.
Dass wiederum Grass’ Gedicht aus ästhetischen Gründen misslungen ist, steht auf einem anderen Blatt. Auf lyrischem Gebiet geht’s dem Grass wie der Kuh auf dem Eis, und mit einem Distichon im Maul wirken er und sein politisches Pathos nur noch skurril. Während sein Anliegen in Prosa durchaus zu diskutieren wäre …
Beim Twittern letzlich geht’s oft zu wie auf einem Krähenbaum hier an der Aller. Kräht der erste Schwarzvogel los, vielleicht nur, weil ihm ein Stück Aas quer vorm Magen lag, krähen hundert andere erst mal unisono hinterher, ohne zu gucken, ob da wirklich ein Fuchs hinterlistig durchs Schilf schleicht. Twittern ist plötzliche Lautgebung ohne Verstand und Recherche … oft von Leuten übrigens, die durchaus akzeptabel sind, wenn die höheren Geistesfunktionen den notwendigen Reboot hinter sich haben.
Hat der Artikel in der gedruckten Ausgabe denn auch die Einleitung wie im Web ? Dort steht ja ganz klar
“das Satiremagazin „Titanic“ hätte die Persiflage eines Grass-Gedichts auch nicht besser hinbekommen.”,
wodurch doch jedem halbwegs fähigem Leser klar sein sollte, daß es sich im Nachfolgenden um Satire handelt. Dass alle möglichen Trottel dann Gerüchte weiterverbreiten, scheint mir aber auch nicht besonders medienspezifisch.
(wohlgemerkt: ich möchte nicht den schrottigen Satireversuch des Autors verteidigen)
Im Print ist der Beitrag ohne Einleitung unter “Nachrichten” erschienen. Was nicht gerade den Gepflogenheiten entspricht.
Schmerz.
Aber dann ist es umso lustiger, daß ihnen der Fauxpas bei der Bereitstellung fürs Web wohl schon so peinlich war, daß sie es gekennzeichnet haben. Und umso trauriger daß die meisten Leute die sich darauf beziehen vermutlich nur die digitale Version *mit* Warnhinweis kennen.
Auch ich las den Artikel als Satire (stand ja sogar drüber). Aber zugegeben: ein Martenstein (oder gar Wiglaf Droste, Henscheid, Henschel) hätte das etwas launiger, leichter, amüsanter, schärfer und wirkungsvoller hinbekommen.
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Schuld an der Twitter-Deppen-Aufregung ist nicht der Autor der FAZ sondern all die Deppen, die – so ist zu vermuten – nur etwas weiterverbreiten, von dem sie annehmen, es sei “neu, cool, schick, aufregend, sensationell”, ohne den Artikel gelesen zu haben. Ich behaupte, dass eher fefe als der Versursacher dieser Müllverbreitung anzusehen ist. Denn all die Twitterheinis lesen in der Regel nicht die FAZ, aber den vorschnellen fefe (weniger Worte, die sie erst einordnen und verstehen müssen).
Die Initialzündung war ein Schmierfink der – Computerbild. Das wurde dann 180 mal vertwittert. Ein jeder bekommt die Fans, die er verdient
[…] Genau diese Fehler aber beging die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die einen fälschlich als ‘Satire’ deklarierten Zeilenfall, verfasst vom Volker Weidermann, als Knallfrosch in ihrem siebenjährigen redaktionellen Stellungskrieg nutzen wollte, weil sie mit einem alten Mann seit Radetzkis Zeiten noch ein paar Rechnungen offen hat. […]
Mir sind die modernen Medien lieber, die einen Hoax in Windeseile verbreiten und die in Windeseile genausoschnell Entwarnung geben. Die Holzmedien gestehen ihre Fehler – wenn überhaupt und manchmal nur mit juristischem Druck – mit mindestens einem Tag Verspätung ein. Ich bin froh, dass ich in einer Zeit lebe, in der ich mit wenigen Klicks meine eigene Meinung bilden und stützen kann. Da nehme ich sämtliche Hoaxes, Shitstorms und Twidioten liebend gern in kauf!