Life Cacher, sagt die SZ
Wie so oft im SZ-Kulturteil, wird ein Beitrag in seiner Langatmigkeit und seiner Botho-Strass-Fixierung inhaltlich zu Tode gematscht. Kernaussagen sind schwammig, aber zumindest eines ist klar: Blogs sind doof.
Dazu dann internetbasierte Poesie-Alben und Tagebücher, so genannte Blogs, die eine globale Fortschreibung ermöglichen ? wir müssen uns das Leben als eine Großoffensive ausgestoßener Daten vorstellen, die sogleich gesammelt und digital abgespeichert sein wollen. Irgendwas passt immer noch zwischen 0 und 1. Dieser Notationswahn hat auch schon einen Namen: ?Life Caching? nennen die Trend-Scouts das Verhalten vollvernetzter Mitbürger, die den avanciertesten Stand der Technik nutzen, um noch ihre verborgensten Lebensmoleküle in bibbernde Bits und Bytes zu gießen.
Ooops. Da ist jemand aber von der Technik echt schockiert. Bibbernde Bits und Bytes! Karl Kraus hätte für solchen Sprachmüll seine Fackel weggeworfen und den Flammenwerfer geholt. Von welchem Germanistik-Proseminar holt sich die SZ eigentlich ihren Nachwuchs? Dieses Prachtexemplar meint: Alles in Echtzeit gecached, zu viele irrelevante Daten gesammelt, das kann natürlich nicht gut gehen, nein nein. Und wie der Zappelphillip am Ende bestraft wurde, so wird das laut dem Autor auch den Life Cachern (wo nochmal hat der eigentlich den saublöden Begriff her?) ergehen:
Die heutigen ?Life Cacher? werden ihren glücklichsten Moment dagegen vermutlich noch verpassen, weil sie kein Heu im Nadelhaufen mehr finden. Ein Kalauer, dass einem die Eier abfallen.
Spass beiseite: Ich habe mich wissenschaftlich mit Kulturen ohne schriftliche Ãœberlieferung der “normalen” Menschen auseinandergesetzt. Wenn man nur das hat, was Gatekeeper, ganz gleich ob SZ-Schwafler oder Paulus Diaconus, als wichtig empfinden, wird das Bild einer Gesellschaft schnell schräg und falsch, selbst wenn die Berichterstattung stimmt. Ein grosser Teil der Menschen wird stumm. Bestand die Geschichte der Langobarden wirklich nur aus inneren Kriegen und Intrigen? Gab es nicht auch Zärtlichkeit, Spass, Gefühle, normalen Alltag? Die meistzitierten Stellen von Diaconus Geschichte der langobarden sind die paar Zeilen, die er nebenbei dem Alltag widmete. Wenn nur dieser Artikel der SZ überleben würde, welchen Eindruck hätten spätere Forscher von unserem Tun? Wenn nur die Bravo übrig bliebe, was würde das Bild der jungen Menschen sein? In der jüdischen Kulturgeschichte wird das präzise, private Tagebuch der Glückel von Hameln hochgelobt, weil es ein einzigartiges Dokument des Lebens im 17. Jahrhundert ist. Jede Kulturgeschichte giert nicht nach den Phrasen und Lügen der Gatekeeper, sondern nach der Authentizität. Desto schneller, ereignisnaher, direkter, desto besser.
Aber im Kulturteil der SZ scheint das nicht bekannt zu sein. Es ist eine unfassbare Arroganz gerade eines Journalisten, Information den Wert abzusprechen, die sich zumindest an der Wahrheit orientiert. Information verliert nur ihren Wert, wenn sie dezidiert falsch ist – wie etwa diese Bemerkung im Artikel: Nokia werkelt angeblich an einem ?Lifeblog?-Service, der alle Kurznachrichten, Töne und Bilder – ach, nein? Komisch, auf meinem Handy läuft Lifeblog seit 3 Monaten ganz offiziell, und sehen konnte man das auch schon auf der CeBit – aber wer als Nachweis für seine Qualität Botho Strauss zitieren kann, braucht sich um die Realität nicht zu kümmern. Zumindest nicht in der SZ mit ihren Fact Checkern.
Setzen 6.
Nachtrag. Falls, sagen wir mal, in 10 Jahren jemand auf der Suche nach den Life Cachern ist und bei Google sucht, wird er wahrscheinlich diesen Artikel hier abrufen können. Dieser Artikel wird seine Sichtweise prägen, denn zum einem ist der gegnerische Autor durch seinen Fehler desavouiert – und die SZ hat den Beitrag längst weit hinten ins kostenpflichtige Archiv gepackt, hinter eine nervtötende Suchfunktion.
Geschichte ist nicht das, was war, sondern das, was von der Gegenwart übrig bleibt. Sollte man sich merken.
Sorry, the comment form is closed at this time.
Mir gefällt vor allem, dass der Autor sich die Meldungen vom Kernel Event Manager durchliest und die Protokolle seiner Terminsynchronisation für Literatur nimmt. Früher hat er wahrscheinlich das Farbband seiner Schreibmaschine begeistert “gegengelesen”. Ansonsten ist alles reingerührt, bis zum Vannevar Bush, ein übler Fäuleton-Schwurbel.
Die eigentliche Breitseite gegen Blogs setzt freilich Manfred Bissinger zwei Seiten weiter mit seinem “Im Netz der Eiligkeit” ab. Nur nennt er das Kind nicht beim Namen.
Am ehesten bin ich darüber gestolpert, dass Bernd Graff als Motivation für das Bloggen und Website-Basteln den Wunsch nach Archivierung voraussetzt. Ich kenne zwar einen Blogger, der die Technik explizit zum Archivieren nutzt – aber das ist ein einziger.
Ich hätte viel mehr vermutet, dass Bloggen ganz im Gegenteil zu Graffs (bräsigem) Argument, Vergegenwärtigung des Moments ist.
Nachdem gestern Frau Augstein die Feuilleton-Eins mit einer waschecht politischen Analyse vollmachen musste, vermute ich jetzt echte Themenprobleme in diesem Ressort.
Und im letzten Jahr hat gerade er seine Leser mit einem zweiteiligen (!) Artikel über seine Erfahrungen mit einer Linuxinstallation gelangweilt.
Urteil eines Informatikers über diesen Artikel:
“Der überwiegende Teil des Artikels ist jedoch eine ziemlich belanglose Historie der Computererfahrung des Autors.
Bereits zuvor hat Graff nach eigenen Angaben zweimal versucht, Linux zu benutzen. Nach erfolgreicher Installation kam er aber nicht weiter, da er sich grundsätzlich weigerte, die Kommandozeile zu benutzen. Beim dritten Anlauf zögerte er lange, weil er seine Windows-Installation nicht gesichert hatte und Angst hatte, er könne sie verlieren.
Schließlich startete er doch die Installation und alles lief reibungslos. Lediglich Drucker, Modem und die Verbindung zu seinen Windows-Rechnern konnte er nicht einrichten, schreibt dies aber der späten Uhrzeit und seiner Müdigkeit zu. Die Information, ob er es ohne Befehle auf der Kommandozeile hinbekommen hat, schaffte es nicht mehr in den Artikel.”
Gähn!
http://www.informatik-muenchen.de/index.php?article=1787
Korrektur: Der Artikel erschien vor zwei Jahren.
das “life-caching” kommt, wie eine kurze suche mit google ergibt, von trendwatching.com. und da scheint auch die inspiration für ganze abschnitte des artikels herzustammen.
Wo lebt der denn, oder ist München wirklich dem Rest von Deutschland Jahre voraus?
Nahezu jedes elektronische Aufzeichnungs-Gerät passt inzwischen in die Münztasche einer Jeans. Oder wie gross ist die Münztasche seiner Jeans?
Allerorten tönt die Werbung, dass diese Kleinstaufzeichner unbedingt nötig seien, um seine Lebenserfahrung mit Familie und Freunden zu teilen. Wohl ein Werbejunkie, der nur MTV & Co sieht.
Allein, man möchte es weder Erfahrung noch Leben nennen, was da alles aufgezeichnet wird.. Klingt ein wenig danach, anderen Leuten die ihr
eLebensberechtigungabzusprechen.“Geschichte ist nicht das, was war, sondern das, was von der Gegenwart übrig bleibt. Sollte man sich merken.”
Und Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers. Graff ist die — “intellektuell” genannte — Asche anscheinend lieber, denn er hat Angst sich am Feuer, d.h. neuen Entwicklungen, Aneignungen von Technologie usw. zu verbrennen. Diese Angst seinerseits ist nicht ganz unberechtigt, denn nach der Lektüre seines Artikels halte ich die Wahrscheinlichkeit für hoch, daß er die Fackel am falschen Ende entgegennehmen würde.
Wenn man den Artikel liest, nachdem man eine Stunde über myblog.de gesurft ist, macht er Sinn. Wahrscheinlich suchte er was junges zum
fickenvorlesen, ist an den Smileys verzweifelt, hat den Rotwein entkorkt, kurz die gesammelte Botho Strauss Sammlung gestreichelt und gesagt: “Das schreibe ich für Dich.”@ Hal Faber “Farbbänder gegenlesen” ist fein. Mach ich auch immer: http://www.grienhans.de/grienhans040827.htm (gibt aber auf Dauer nix her, wenn man merkt, daß alles nur Show war)
Und gegen Blogs sich wenden heißt: gegen Hüte sein. Oder gegen Rührkuchen, bzw. Rundfunk. Oder Elektrizität. ggf. auch gegen Fälle. Sicherlich nicht ganz unberechtigt. Ich denke, das sollte mal gesagt werden. Was aber den Gegenredner betrifft, so hat er bestimmt eine unansehnliche Brust. Mal ganz von dessen Psyche abgesehn! Obwohl: die ist wahrscheinlich überraschend schön-und leuchtet im Dunkeln wie die Knochen vom Yps-Dinosaurierbausatz.