Zahlenakrobatik
“Blogs” in den USA erleben gerade die Kehrseite der Journaille, die sie unreflektiert hochgeschrieben hat. Letztes Jahr, unter dem Eindruck der Präsidentschaftswahlen, wurden die Medien nicht mĂĽde, auf die neue Bewegung im Netz hinzuweisen. In der Regel schrieb der eine vom anderen ab, die typischen Themen waren dann also: Blogs sind eine Killer App, wachsen rasend schnell, Jonathan Schwartz, Robert Scoble auf der einen, Rathergate und Jordangate auf der anderen Seite, dazwischen die Parteitagsblogger und Move on. Ironischerweise traten die Journalisten mit dem ständigen Wiederholungen den Beweis an, dass sie nicht besser als die Blogger waren, denen oft auch nichts anderes als diese paar Standardbeispiele und Phrasen einfielen*.
Das ist jetzt alles anders. Blogger werden als die neue Stasi bezeichnet, als Grossmäuler, als gefährliche, verantwortungslose Meute, als Bande von unmoralischen Neocons. Die Bilder des Tsunmai in Südostasien war nochmal eine späte Blüte, doch jetzt fehlen die spektakulären News. Das Starsystem, das die Blogs nach oben gespühlt hat, zieht sie jetzt folgerichtig nach unten.
Da passt es natĂĽrlich ins Bild, wenn Zahlen kommen, die nicht so berauschend sind: “Blogs miss the Mark”, titelte Gallup bei dieser Umfrage. Als wären Blogs eine Aktiengesellschaft, die der Erwartung der Analysten nicht entsprochen hätte. Tatsächlich hatte eine Studie der notorischen Firma Perseus fĂĽr Ende 2004 bei satten 100% Wachstum 10 Millionen Blogs bei amerikanischen Hostern vorhergesagt – ein Zahl, die aller Wahrscheinlichkeit nach nicht erreicht wurde. Technorati spricht von aktuell 8 Millionen Blogs, inclusive 10% Marketing-Fakes. Wahrscheinlich liegt das Missverhältnis aber auch an der Messung – laut Technorati verdoppelt sich die Zahl der bei ihnen gefĂĽhrten Blogs alle 5 Monate.
Die Studie des Pew Internet & American Life Project vom Januar 05 mit dem “The State of Blogging” geht von “nur” knapp 60% Wachstum in den 10 Monaten zwischen Februar und November 04 aus, die Anzahl der Blogleser unter den amerikanischen Internetnutzern stieg auf der Basis der monatlichen Reichweite von 17 auf 27% – Graphisch sieht das ziemlich eindrucksvoll aus. Die Sozialstruktur der Blogger und ihrer Leser – jung, gebildet, Heavy User, Breitbandanschluss, gute Verhältnisse – sollte eigentlich zu denken geben – da wandert gerade die, wie es so schön heisst, werberelevante Zielgruppe ab, die jedes Online-Medium zur Refinanzierung braucht. Nicht komplett, nur teilweise, aber wie jeder GeschäftsfĂĽhrer eines Online-Mediums weiss: Ein Click bei denen ist einer weniger bei ihnen.
Um welche Zahlen es dabei geht, versteht man, wenn man es hierzulande mit dem Spiegel Online vergleicht – der erreicht 11% der Onliner. Oder im Heimatmarkt USA – da liegt die Blogosphäre als ganzes mit ihrer 27% – 29% monatlichen Reichweite vor anderen Winzorganisationen wie eBay mit ca. 26%, United States Government, RealNetworks, Amazon mit nur 17%…
Klar: Es sind sehr viele Blogger. Sie sind ganz klein. Die 27% verteilen sich wie Staub, und sie sind praktisch nicht verwertbar. Das gefällt mir. Aber ich will den Marketingmenschen sehen, dem es egal ist, wenn die Reichweite von Ebay irgendwo anders hin verschwindet; mutmasslich auf Nimmerwiedersehen und mit einem weiteren Wachstum von 60% im Jahr, und einem unerschlossenen Markt von gut 60% der Onliner, die noch gar nicht wissen, was Blogs sind – Ebay kennen ĂĽber 90%.
Bis dahin ist es in Deutschland noch ein wenig Zeit. Laut neuester Zahlen von Perseus werden in Amerika weniger als 50.000 Blogs täglich befĂĽllt, und diese Blogs machen wahrscheinlich den grössten Teil der Gesamtreichweite der Blpgosphäre aus. In Deutschland dĂĽrften es bei weniger als halb so vielen Internetnutzern laut Blogstats ein paar tausend sein (vielleicht kann Nico was genaueres dazu sagen). Allerdings hat der Abgleich mit einigen Bloggern auf den vorderen 20 Plätzen von Blogstats ergeben, dass sich bei ihnen die “Einschaltquote” in den letzten 6 Monaten locker verdoppelt hat.
(*denen zugeeignet, die sich gerne das Maul zerreissen und trotzdem heute schon wieder hier den Server belasten, hauptsächlich, weil es für eigene Ideen, Beiträge oder Druckwerken zum Thema mal wieder, wie immer nicht gereicht hat)
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“da wandert gerade die, wie es so schön heisst, werberelevante Zielgruppe ab, die jedes Online-Medium zur Refinanzierung braucht. Nicht komplett, nur teilweise, aber wie jeder GeschäftsfĂĽhrer eines Online-Mediums weiss: Ein Click bei denen ist einer weniger bei ihnen.”
– stimmt das? Klicks sind doch keine Wahlentscheidung bei denen ich allzuviel (etwas Zeit, einen Cent) einsetze. Ich lese nicht Blogs oder die Zeit oder kaufe bei Amazon was ein, sondern oft gerade deshalb, weil sich schon einer hingesetzt und mich neugierig gemacht hat.
Es gibt einen Onlinekuchen, in etwa “Surfdauer mal Anzahl der User” – das sind die Kerndaten vonN ielsen Rating. Wenn ich 2 Stunden bei Spiegel bin, dann können die diese Zeit als Teil vom “Tausenderkontaktpreis” TKP an ihre Werbekunden verkaufen. Wenn ich statt dessen eine Stunde beim Spiegel bin und eine auf dem Blog, dann kriegen sie nur noch die Hälfte.
Das alles wäre kein Problem, wenn die Leute die Blogzeit zusätzlich surfen wĂĽrden – aber genau das tun sie nicht.
Wirklich? Hast du da irgendwo etwas, das über Privatempirie :-) hinaus geht? Denn meine Privatempirie (also das persönliche Umfeld) legt was anderes nahe: Dass Zeit in Blogs nicht in erste Linie auf Kosten anderer Online-Zeit geht, sondern auf Kosten von Glotze und Holz. Flatrate sei Dank scheint mir die Onlinezeit noch zu wachsen, oder?
(Irgendein Idiot macht hier im BĂĽro ĂĽber uns offenbar gerade sein Bohr-Praktikum. Kotz)
Ich habe seit 18 jahren keine Glotze mehr, und totes Holz ist mein Beruf. Im Netz bin ich meist nur noch beruflich auf Nichtblogs. Was sicher auch mit der Verknappung der Profi-Online-Angebote zu tun hat. FrĂĽher habe ich jeden morgen das SZ-Feuilleton im Netz gelesen. Da blogge ich jetzt.
In Amerika jedenfalls stagniert die Onlinenutzung parallel zum Aufstieg der Blogs. Allerdings zeigt diese Graphik mit dem Schwerpunkt nach 8 Uhr, dass da an der Sache mit der Glotze schon was dran ist – die wird wohl zum Nebenbeimedium. Nur mĂĽsste man da auch mal gucken, wer das macht – das ist ein Extrading. Wann anders in diesem Theater.
Neben der Quantität gibt es auch die Qualität. Bei den derzeitigen Programmstandards im Fernsehen ist nur noch selten volle Aufmerksamkeit notwendig, da kann auch “nebenbei gesurft” werden, wobei letzteres qua Aktivität immer wieder den Surfer ablenkt, weil Links angeklickt und Inhalte geistig sortiert werden mĂĽssen.
Wenn ich jemanden im Wohnzimmer mit Fernseher auf dem Tisch und Laptop auf den Knien habe, weiĂź ich wem die Person i.d.R. mehr Aufmerksamkeit schenken wird.
Vielleicht daher auch der Aufschrei der letzten Tage von Teilen der Werbewirtschaft nach mehr “Qualität” im Fernsehen.
sich, ist den alteingesessenen Medien nicht länger ohnmächtig ausgeliefert. Der unleugbare Erfolg des Mediums Ă‚?BlogĂ‚? beruht genau auf diesem Phänomen. We […]