(Achtung RSS-Leser – der Text nimmt nach langer Einleitung überraschende Wendungen) Meine erste Erfahrung mit dem Internet war zu einer Zeit, als die Monitore noch schwarz-grün waren, in meinem Umfeld keiner den Begriff “Internet” kannte, die Floppies noch sehr gross waren und ein Professor wahnsinnig bestaunt wurde, als er an dem institutseigenen 9-Nadeldrucker einen kleinen Mitnahmecomputer anschloss, der nicht mal 7 Kilo wog. Kurz, es war Ende der 80er Jahre, und ich studierte im Nebenfach klassische Archäologie. In meinem Hauptfach ging die Literaturrecherche grob gesagt so: Man suchte alle Zeitschriften – und das war eine Menge in diesem Fach – auf die neuesten Artikel zum Thema durch, las sie, notierte sich die in den Fussnoten angegebenen Quellen, durchforstete die Literaturlisten, suchte diese Bücher in der Bibliothek und bahnte sich so seinen Weg durch das vorhandene Wissen. Oft merkte man, dass geschludert, gelogen oder erfunden wurde, wie das in der Wissenschaft nun mal so ist, es war anstrengend, aber nachher wusste man, womit man es zu tun hatte. Man kannte nachher seine Pappenheimer, und wenn Professor X. in seinem neuen Artikel schon Prof. Y. in Grund und Boden gelogen hatte, konnte man sich die Arbeit sparen, sich seine Habil zum gleichen Thema allzu heftig reinzuziehen. Nur – es dauerte im Hauptseminar locker 4 Wochen, bis man soweit war.

Im Nebenfach war alles viel lockerer. Man ging in einen Nebenraum, wo ein Computer stand, gab die nötigen Befehle ein, um ihn zum Laufen zu bringen, und dann verband sich dieser Computer über Internet mit einem Computer in Rom. In Rom ist das Deutsche Archäologische Institut mit der weltweit grössten Bibliothek zum Thema, und jemand hatte sich die Mühe gemacht, alle Bücher mit Schlagworten zu versehen. Man gab also seine eigenen Schlagworte zum Thema ein, und nach ein, zwei Stunden spuckte der Rechner einen Haufen Literatur zum Thema aus, die man auf den riesigen Floppies speichern, auf dem 9-Nadeldrucker ausdrucken und nachher in der Seminararbeit abtippen konnte. Arbeitserserparnis 3 Wochen, 6 Tage und 22 Stunden.

Wenn, ja wenn… da gab es zwei grosse Probleme: Problem 1 war die Verschlagwortung. Gute Bücher und Texte haben sehr viel Inhalt, Abschweifungen und Nebenstränge, die in der Regel nicht verschlagwortet wurden. Mitunter war das aber sehr gutes Wissen, das so durch den Rost fiel. Und das Aktuellste war oft noch nicht ausreiched verschlagwortet, oder ging in der riesigen Menge an anderer Bücher unter, die dann einen fetten Klotz meist veralteter, sehr allgemein gehaltener Literatur ergab.

Wenn man ein klein wenig kritisches Bewusstsein hatte, begriff man schnell, dass die Liste aus dem Rechner jenseits eines groben Überblicks nicht weiterhalf. Sie brachte nicht den aktuellen Stand, sie war unvollständig, und im Ergebnis fand man sich auf einem Depperlniveau wieder. Man bekam das, was irgendwie jeder schon wusste, was allgemein so gelabert wurde, aber begriffen hat man vom Thema so gut wie nichts. Der tolle Rechner lieferte im Kern den Mainstream in mittelmässiger Qualität, das Brilliante neben dem Blöden, die Lügner neben den Ehrlichen. Wer da nicht höllisch aufpasste, entdeckte den aktuellen Stand der Debatte nicht, stütze sich auf alten Scheiss oder sass mangels Kenntnis von Alternativen einer inzwischen revidierten Lehrmeinung auf. Einfach, weil man das rudimentäre Hilfsmittel des Schlagworts mit einer Methode verwechselte.

Und damit sind wir 26 Jahre im Web 2.0 angekommen, und bei den in der fortschrittlichen “Social Software” Blogosphäre ach so beliebten Tags und Tag Clouds. Die heute noch schlimmere Probleme haben als der Computer am DAI in Rom in grauer Vorzeit. Beispiel Begriffsproblematik: Nehmen wir an, ich habe damals was über Gallier in Kleinasien während des Hellenismus gemacht. Beim DAI gab es klare Regeln, mit welchen Begriffen ein Buch zu verschlagworten war, sprich, wenn ich Gallier und Kleinasien eingab, kam alles passend, bei Barbaren und Türkei kam herzlich wenig. Blogger haben schon bei der Schreibweise von Tags ihre Probleme: Tag? Tags? Tag Cloud? Tag Clouds? Schlagartig zerfetzt es den Begriff in vier einzelne Brocken in der Tag Cloud, unterschiedlich gross und mitunter entnervend, wenn man alles absuchen muss. Oder einen Klumpen übersieht. Abhilfe ist auch nicht, wenn man alle Schreibweisen als Tags einsetzt: Prompt gibt es vier fette Klöpse in der Cloud, die alles dominieren, auch wenn es in der Realität nicht so ist – andere Themen hatten dann halt das Pech, dass ein Tag ausreicht. Beim DAI bekam jeder von einer oberen Instanz die Schlagworte, die er verdiente – im Web 2.0 wird der gefunden, der am brutalsten die meisten Tags bei seinen Artikeln raushaut, und nicht der, der die besten Informationen hat. Tagspamming, baby.

Und dann ist da noch die Sache mit den unterschiedlichen Grössen der Begriffe in den Tag Clouds für die Nutzer. Ui, schau hie, da ist was Fettes, da ist was los, da rennen alle hin, da ist der Trend – das sagt die fette Schrift. Ganz gleich, wie es entstanden ist, und welche Beiträge oder Wiederholungen dahinter stehen. Der Nutzer bekommt das Gefühl, das Wichtige, das Relevante mitzubekommen, ein Blick reicht auch dem Analphabeten, Hauptsache gross, und man muss nicht weiter nachdenken. Da wird die Tagcloud zur Quotenmaschine, zu einem selbstverstärkenden Trendinstrument, ungefähr so sozial wie der Hype um die Dschungelshow oder Big Brother und anspruchsvoll wie eine Fernbedienung. Der alte Mainstream ist gross, das Neue dagegen schlabbert noch klein irgendwo im Eck, wer weiss, ob es überhaupt je gefunden wird, bei der Dominanz des Durchgekauten. Sozial ist das, was alle tun, selber denken ist nicht so wichtig, denn am Ende ist auch kein Professor, der einem den Kopf abreisst, wenn man ein halbes Jahr nur die immer gleiche Scheisse gelesen hat, nur weil der Rechner es eben so hirnlos verschlagwortet ausgespuckt hat, wie das Hirn des Benutzers funktioniert.

Im schlimmsten Fall ist Taggen so nicht “Finden statt Suchen”, sondern “Nachplappern statt Erkenntnis” und “Konsumieren statt denken”. Und asoziale Software, sowieso.