Mein Twitter-Impulsreferat auf den Medientagen München
(damit man wenigstens mal über das reden kann, was gesagt wurde, und nicht über das, was andere glauben, dass es vielleicht gesagt wurde)
Guten Tag,
ich bin gebeten worden, Ihnen unser heutiges Thema nahe zu bringen. Wer mein Metablog “Blogbar.de” kennt, weiss vielleicht, dass ich Twitter nicht gerade zu den zukunftsträchtigen Webservices zähle, und, um gleich die ganze Wahrheit zu sagen: Jenseits des Zeittotschlagens im Internet, des netten Palavers zwischen Freunden, vielleicht noch einem gewissen Herdentrieb, mit dem viele nachplappern, was ein anderer getweetet hat – sehe ich in Twitter keinerlei Bedeutung. Ich mag die Oberflächlichkeit des Mediums nicht, und ich mag den Hype nicht, der um Twitter von Leuten gemacht wird, die schon den gleichen Hype um Blogs, Second Life, Mobloggen, Nachrichtenaggregatoren, Flickr, Delicious, Tumblr, Myspace und was da sonst noch an Zukunftserwartungen war, gemacht haben. Kurz, ich bin vermutlich das genaue Gegenteil von Sascha Lobo, der hier heute stehen und diesen Vortrag halten sollte. Trotzdem will ich versuchen, Ihnen einen möglichst ausgewogenen Blick auf das Phänomen Twitter zu ermöglichen, auf den Hype und auf die Frage, welcher Nutzen daraus gezogen werden kann.
Zunächst einmal zu den Zahlen: Twitter hat unbestreitbar eine enorme Erfolgsgeschichte in den letzten Jahren hingelegt. Die 2006 gegründete Firma hat es trotz Softwareproblemen und häufigen Systemabstürzen geschafft, in Windeseile gerade die sogenannten Early Adopters des Internets für sich zu begeistern. Im ersten Moment mag das überraschen, denn Twitter erscheint nur ein kastrierter Blogdienst zu sein, der keine langen Texte oder übersichtliche Debatten mit vielen Teilnehmern zulässt. Mit Twitter geht nichts, was mit einem Blog nicht auch möglich wäre, aber das Fehlen vieler Funktionen hat dem Erfolg keinen Abbruch tun können: 58,4 Millionen Besucher hat Twitter laut Comscore allein im Internet im September gehabt, und hat damit über das Jahr diese Zahl fast verzehnfacht. Noch deutlicher fallen die Zahlen in Deutschland aus, wo sich mit 1,8 Millionen heute 25 mal so viele Nutzer wie vor einem Jahr tummeln. Gleichzeitig aber hat sich in den USA, dem wichtigsten markt für das Unternehmen, das Wachstum eingependelt – und zwar seit Juni bei Null. Sprich, für jeden, der Twitter neu entdeckt, gibt es einen, der es nicht mehr besucht. Es deutet sich eine gewisse Marktsättigung an, über deren Gründe hier nachher auch noch zu reden sein wird.
Twitter ist dennoch in Deutschland ein Wachstumsmarkt mit einer wichtigen Zielgruppe, sagen Berater und, sagen wir mal, technikbegeisterte Journalisten, und bieten gern ihre Hilfen an. Twitter selbst ist gerade wegen der hohen Nutzerzahl eine entsetzlich dezentrale Sache; der Medienpädagoge Thomas Pfeiffer geht aktuell von einer viertel Million aktiver Twitternutzer in Deutschland aus, wobei ein niedriger bis mittlerer zweistelliger Prozentsatz nach ein paar Wochen wieder aufhört, weil es ihnen nicht taugt, und sich ihnen die Faszination der ständigen, tagesbegleitenden Kommunikation mit Freunden nicht erschliesst. Diese Szene ist, wie schon Blogs und soziale Netzwerke, nicht organisiert, sprich, es gibt keine allgemein relevanten Meinungsmacher. Gemeinhin ist Twitternutzern, und hier gerade jenen, die Twitter beruflich nutzen, die Anzahl der sogenannten Follower extrem wichtig. Aber selbst der deutsche Spitzenreiter Sascha Lobo hat nicht mal jeden 10. Nutzer als Follower. Wieviele dieser Follower sich dort eintragen und dann tatsächlich den Äusserungen folgen, ist eine weitere, ungeklärte Frage. In der Diskussion werden Follower oft mit Lesern oder Abonnenten gleichgesetzt – mitunter hat man aber auch den Eindruck, dass hier das selbe eitle Spiel wie in anderen sozialen Netzwerken läuft, wo das Selbstwertgefühl mit der Zahl und Qualität der angeblichen “Freunde” steigt.
Umgekehrt führen die interessierten Kreise an, dass die Follower nicht nur Leser, sondern auch selbst Multiplikatoren sind. Tatsächlich gibt es den Retweet, abgekürzt RT, mit dem Follower Texte und besonders gern interessante Links weitertragen, die ein anderer gefunden hat. Der Umstand, dass mitunter etwas beliebig alles retweetet wird, was nicht bei drei auf dem Offlinebaum ist, mag nicht gerade ein Ausweis an tiefer Weisheit und Überlegung sein, aber es kann den Verlinkten erheblich Besucher und Aufmerksamkeit schenken.
Wieviel das ist? Nun, ich habe das mal bei einem oft von durchaus prominenten Twitternutzern verbreiteten Beitrag ausprobiert. Das Ergebnis war ziemlich ernüchternd: Nicht mal 1% der angemeldeten Follower drückte auf den Link zum Beitrag. Zum Vergleich: Bei Links in meinem Blog folgen zwischen 5 und 20% der Leser dorthin. Aber in Zeiten wie diesen, und angesichts eines Wachstumsmarktes, sind solche Ãœberlegungen vielleicht sekundär, geht es doch sicher auch darum, frühzeitig eine Spitzenposition in diesem neuen Medium zu besetzen. Folglich twittern DAX-Konzerne und PR-Firmen, es brüsten sich dort freie Berater, und Spammer schmieren alles voller Links zu Viagra und Penisvergrösserungen. Mit Dell behauptet eine Computerfirma mittlerweile, dank Twitter Millionenumsätze zu machen – auch wenn nicht klar ist, ob die über Twitter von Sonderangeboten informierten Follower nicht auch ohne Twitter einen verbilligten Dell gekauft hätten. Von Beratern unterstützt, wollte Vodafone mit einer grossen Twitteroffensive wollte Vodafone zeigen, wie man damit kommuniziert – es nicht ging gut, wie gesehen man hat.
Man sieht also: Twitter ist eine reichlich esoterische Angelegenheit. Man kann darin die Zukunft der schnellen Internetkommunikation sehen und auf die Chancen besonders bei der mobilen Verbreitung hinweisen, man kann PRler träumen lassen, direkte Gespräche mit potenziellen Kunden zu führen, ganz hinunter auf die zwischenmenschliche Ebene zu kommen, oder gar andere zu Followern seiner Firma zu machen, die dann kostenlos als Werber agieren und die Firma ihren Freunden empfehlen. Mit Twitter, so die Legende, werden Nachrichten schneller, angefangen beim Flugzeugabsturz in den Hudson über die vorschnell gezwitscherten Wahlergebnisse oder die Geschmacklosigkeiten, mit denen Reporter eines gewissen Magazins nach dem Amoklauf von Winnenden ihren Gossenhumor unter Beweis stellten. Kurz, alles scheint möglich zu sein, und das wäre alles ganz famos –
Hätte man das alles nicht auch schon über eben jene Blogs gesagt, die gerade ein wenig von Twitter kannibalisiert werden. Denn auch schon vor 6, 7 Jahren hiess es, Firmen und Zeitungen müssten bloggen, um teilzuhaben, um einen Fuss in die Tür zur jungen Zielgruppe zu bringen. Mit Blogs könne man prima PR machen und schnell informieren. Und so legten Firmen wie Sun und IBM ihren Mitarbeitern Blogs ans Herz, Firmen und Medien zogen hastig Blogs hoch und füllten sie mit dem, von dem sie dachten, es käme gut an. Gebracht hat es so gut wie nichts, GM ging trotz Blog pleite, und auch Kündigungen werden nicht schöner, wenn sie, wie etwa bei der WAZ, öffentlich verblogt werden. Erfolgreiche Blogs, ganz gleich ob journalistisch oder als Corporate Communication, blieben die Ausnahme. Gleiches gilt auch für Zeitungen, Produktinformationen und Pressekonferenzen bei Second Life. Insofern ist es, sagen wir mal, mutig von den üblichen Beratern, heute Twitter mit den gleichen Argumenten als Kommunikationskanal anzupreisen, die schon früher bei Blogs und Co. nicht funktioniert haben. Dass es Ausnahmen gibt, will ich an dieser Stelle keinesfalls bestreiten, bitte Sie aber zu bedenken, dass diese meine Zweifel von einem der wenigen deutschen Blogger vorgetragen werden, der von seiner Bloggerei leben könnte.
In meinen Augen gibt es rund um Twitter zwei Kernfragen, an denen sich das Schicksal des Hypes entscheiden wird. Da ist zum einem die Frage, ob es Twitter heraus schafft aus der Blase der Webevangelisten, der Vertreter der neuesten Dinge, der Apostel des Onlineseins. Twitter ist ein Werkzeug, das vor allem von jenen gebraucht wird, die selbstverständlich immer online sein wollen, ein Instrument für digitales Grundrauschen, für den Dauertratsch der immer Erreichbaren – und bitte, noch mal, das hat durchaus seine Berechtigung, keine Frage, man kann sich natürlich auch so durch den Tag kommunizieren, ohne dass man gleich von Twittersucht oder Talkshow-Komplex reden müsste. Dabei ist Internetnutzung aber für viele Menschen immer noch Email, Ebay und T-Online, und gerade solche Menschen tun sich schwer, wenn Themen wie bei Twitter von Ingroups mit eigenen Codes, Riten und Mythen beherrscht werden. Unter Twitternutzern gilt Twitter als einzigartig; warum das so ist, wird kaum erklärt, und an einem Dauerleben im Netz und seinen Reizen wird nicht gezweifelt. Auf dem Wochenmarkt in meiner Heimatstadt fände man es dagegen durchgeknallt, jeden gekauften Kürbis dem Netz mitzteilen. Wenn Twitter aus der Nische der Internetvorreiter und Spezialisten herauskommen und wirklich bei der breiten Masse ankommen will, sehe ich einen weiten und schweren Weg.
Zum anderen ist das Problem der Übernahme von Twitterfunktionen durch Andere. Es ist nicht schwer, Twitter zu kopieren. Viele meiner Bekannten benutzen lieber identica, und so gut wie jedes bessere Netzwerk baut gerade seine eigenen Twitterfunktionalitäten aus. Damit kommen sie der Faulheit der Nutzer entgegen, die nicht viele Dienste nebeneinander betreiben wollen, und es sieht auch so aus, als wäre gerade Facebook in dieser Sache auf einem guten Weg, hier Twitter den Rang abzulaufen.
Ich persönlich habe den Eindruck, dass Twitter einer dieser periodisch auftretenden Dei ex Machina ist, die versprechen, ohne echten Mehraufwand Verteilungsprozesse im Internet zu beschleunigen. Sprich, da gibt es eine technische Lösung, auf die alle so scharf sind, dass sie in dieser Verpackung bereit sind, alles zu nehmen, was sie darin kriegen. Ich möchte diesen Softwaregöttern sagen: Non credo, nego. Ich glaube nicht, dass die Leser so dumm sind, und ich halte es für ein Zeichen des mangelnden Respekts vor dem Leser zu glauben, dass man ihn mit einem 140-Zeichen-Anreisser schon zum Klicken eines Beitrags bringen kann. Kann schon sein, dass der Klick dann kommt, gezählt wird und an die Werbetreibenden verkauft wird. Aber ich schreibe einzig und allein, um gelesen zu werden, und um einen Diskurs zu haben. Wenn es gut und die Debatte spannend ist, kommen die Leser auch so.